16. Oktober 2021

Europa entschlüsseln II

Ich hab im vorigen Eintrag das Jahr 1892 genannt, als Gerhard Hauptmanns Stück „Die Weber“ erschien. Eines von vielen Beispielen aus dem Bereich der Kunst, wie Werke gesellschaftliche Problemlagen thematisieren. Dabei wiegt aus meiner Sicht stets der künstlerische Akt, folglich die Qualität des Werkes, mehr denn sein Erscheinen, wenn es als Zeichen, als Geste des Protestes gedeutet wird.

Aus dieser Zeit stammt ein Auftreten des Autors Emile Zola. Er legte am 13. Januar 1898 einen offenen Brief an Staatspräsident Félix Faure vor, der in unsere Geschichtsbücher einging. Zolas „J’accuse…!“ („Ich klage an…!“) brandmarkte Fehlleistungen von Staatsdienern und das unethische Verhalten elitärer Kreise in der Dreyfus-Affäre.

Ich halte das für den politischen Akt eines Bürgers, der sich per Selbstermächtigung in den öffentlichen Diskurs einbringt und etablierte Kräfte zur Debatte herausfordert. Das ist kein künstlerischer Akt, obwohl wir heute Konzepe kennen, durch die so ein Vorgehen als Kunstpraxis intendiert und umgesetzt werden könnte.

Mache ich mich verständlich? Der künstlerische Akt führt zu einem Werk mit bestimmtem Inhalt und steht in seiner künstlerischer Qualität für sich. Ein politscher Akt, ein Beitrag zu einem öffentlichen Diskurs, ist etwas anderes. Natürlich gibt es oft Überschneidungen der Genres, denn das sind keine Kategorien, die man streng und unzweideutig vermessen könnte.

Als Beispiel dafür fällt mir ein amerikanischer Roman ein, den ich in jüngeren Jahren als prägend erlebt habe. Er läßt die damaligen Grenzen zwischen Literatur und Journalismus verschwimmen. Amerikas Schlachthöfe gelten als Inspiration für die Fließbänder der Automobilproduktion. Dort herrschten einst für Menschen und Tiere unsäglich Zustände.

Zwischen 1905 und 1906 erschien „The Jungle“ von Upton Sinclair, ein Roman, der das zum Inhalt hat. Dieses Buch über die Schlachthöfe von Chicago sorgte für große Aufregung, politische Reaktionen und Gesetzesänderungen.

Was ich mit all dem auch andeuten möchte: Vieles, was uns Kunstwerke an Einblicken anbieten, steht der Geschichtsschreibung an Relevanz nichts nach. Aber es bleibt eine individuelle Kulturleistung, aus dem Leseakt und der Reflexion brauchbare Schlüsse zu ziehen, die dann auch einer Debatte standhalten und politische Relevanz entfalten.

Zur Erinnerung, mein Ausgangspunkt war hier das hochtrabende Gezänk rund um den Grazer Wahlsieg der KPÖ, worauf wild spekuliert wurde, welche Kontinuitäten in Sachen Menschenverachtung man jenen Menschen nachweisen könnte, die heute unter dem Kürzel KPÖ Realpolitik machen.

Dabei wird vor allem in konservativen bis rechtskonservativen Kreisen gerne auf Marx und Engels herumgehackt. Dieser Aspekt aktueller Zänkereien interessiert mich wenig bis gar nicht, weil unsere Geschichtsschreibung längst geleistet hat, was wir brauchen, um das alles sortieren zu können; Josip Broz Tito eingeschlossen.

Meine Argumentation handelt davon, daß von mir aus auch alle ÖVP-Funktionsträger und diverse andere Parteileute ihre Mandate zurücklegen könnten, wenn wir uns jene geistigen Väter anschauen, die wenigstens ab 1848 für das jeweilige politische Lager prägend waren; Schandtaten eingerechnet, die unter deren Namen und unter einschlägigen Flaggen begangen wurden.

Ich finde es dagegen anregender, wenn wir unsere Geistes- und Mentalitätsgeschichte erkunden, auch unsere Bibliotheken halbwegs kennen, um dann zu klären, wie unsere Welt nun sein soll, sein kann, und wie wir dazu gelangen werden.

Dieses Bemühen gelingt nicht besser, indem wir erst einmal alles wegschaffen, was noch Spuren einer Kontamination aus den Kräftespielen der Jahre 1848 bis 1999 tragen. Wir können damit arbeiten, Wißbegier und Sachkenntnis einbringen. Das wäre nach meinem Geschmack. [Fortsetzung]

+) Wachsende Unruhe (Übersicht)


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