25. April 2025

Die Nische und der Boulevard


Ich bin selbstverständlich nicht bloß mit den grauenhaften Belangen des Zustandes der Welt befaßt. Allerdings sehe ich eine zwingende Notwenigkeit, daß wir auf die aktuelle Neufassung des Kalten Krieges reagieren.

Und zwar auf dem Terrain, das als eine soziale Errungenschaft noch sehr jung ist: die bürgerliche Öffentlichkeit. Das bedeutet, es steht uns allen frei, an öffentlichen Diskursen teilzunehmen, auch welche zu eröffnen.


Längst vorbei die Zeiten, in denen etwa Dostojewski für das Verlesen eines Briefes nach Sibirien geschickt wurde. Metternich? Wer soll das sein? Aber während seit einigen Jahren Schreihälse von „Zensur“ plärren, wo ihr auffallender Mangel an Medienkompetenz ihnen Verständnis-Grenzen setzt, sehe ich sogar mitten im Kulturvölkchen Tendenzen a) zu Weg nach rechts und b) zum Scheitern in der Arbeit an einem öffentlichen geistigen Leben.

Gut, dies ist eine Demokratie, man muß nichts müssen, besser: kaum was. Und wenn jemand wesentliche Möglichkeiten einer Demokratie verschenkt, weil Meckern, Schimpfen und Schlechtreden allemal bequemer ist als Wissenserwerb und seriöser Diskurs, dann ist das eben so.

Selbst unter jenen, die ich als „gebildete Menschen“ einschätze, was meint: in Literarität, Reflexionsvermögen und Debatte geübt, erlebe ich etliche, die ihr „Gefühltes“ nach vorne schieben, sich gegen Einwände notfalls mit Grobheiten abschirmen, somit tätig beantworten, was die Psychiaterin Heidi Kastner als bemerkenswerte Frage in den Raum bürgerlicher Öffentlichkeit gestellt hat: „Wollen Sie diskutieren oder recht haben?“



Mangelnde Impulskontrolle findet viele Wege...

Ich hab eine Weile überlegt, wovon ich mich da genau abgrenzen möchte und wie ich das begrifflich fassen kann, ohne dabei Zuschreibungen zu verwenden, die einer verächtlichen Markierung gleichkämen. Was ich meine? Begriffe wie „Pöbel“, „Proleten“, „Trottel“, „Ruß“ etc. kommen nicht in Frage.

Wie also begrifflich damit umgehen, daß heute vor allem via Social Media gepöbelt wird, was das Zeug hält? Ich nehme ein moderates Beispiel privater Erhabenheits-Pose, Zitat: „Flaschen an der Spitze. Das ist die Chance der zweiten Reihe. Hoffentlich sind die wenigstens gut.“

Von da aus geht es auf der nach unten völlig offenen Skala vorgetragener Verachtung munter dahin. Höchstwerte an mangelnde Impulskontrolle und verbaler Gewalttätigkeit finde ich dann massenwirksam in diversen Formaten des euphemistisch so benannten „Reality TV“.



Genies vom Boulevard erklären uns die Welt.

Da werden recht hemmungslose Role Models in Sachen Gewalt durch Sprache auch noch quotenwirksam inszeniert. Ich brauche eine semantische Lösung, die hinreichend akzeptabel ist, indem sie nicht selbst zur sprachlichen Verächtlichkeit wird.

Meine Lösung liegt in der Markierung des jeweiligen Terrains, wobei einzelne Personen sich durch große Mobilität auszeichnen. Ich sehe da zwei Felder: die Nische und den Boulevard. Hier werden selbstgewählte Regeln beachtet und es wird unterschieden: was sind Argumente zur Sache und was Argumente zur Person?

Dort wird alles behauptet und auf nichts ist Verlaß. Gefühltes hat Vorrang, Verkünden statt Begründen ist das Gebot vieler Stunden. Da wir dem Staat das Gewaltmonopol übertragen habe, ist das Faustrecht merklich eingedämmt. Aber auf dem Boulevard wird es noch praktiziert und gefeiert… bis der Arzt kommt. [Fortsetzung]

+) Netzkultur


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