Längst vorbei die Zeiten, in denen etwa Dostojewski
für das Verlesen eines Briefes nach Sibirien
geschickt wurde. Metternich? Wer soll das sein? Aber
während seit einigen Jahren Schreihälse von „Zensur“
plärren, wo ihr auffallender Mangel an
Medienkompetenz ihnen Verständnis-Grenzen setzt,
sehe ich sogar mitten im Kulturvölkchen Tendenzen a)
zu Weg nach rechts und b) zum Scheitern in der
Arbeit an einem öffentlichen geistigen Leben.
Gut, dies ist eine Demokratie, man muß nichts
müssen, besser: kaum was. Und wenn jemand
wesentliche Möglichkeiten einer Demokratie
verschenkt, weil Meckern, Schimpfen und
Schlechtreden allemal bequemer ist als Wissenserwerb
und seriöser Diskurs, dann ist das eben so.
Selbst unter jenen, die ich als „gebildete Menschen“
einschätze, was meint: in Literarität,
Reflexionsvermögen und Debatte geübt, erlebe ich
etliche, die ihr „Gefühltes“ nach vorne schieben,
sich gegen Einwände notfalls mit Grobheiten
abschirmen, somit tätig beantworten, was die
Psychiaterin Heidi Kastner als bemerkenswerte Frage
in den Raum bürgerlicher Öffentlichkeit gestellt
hat:
„Wollen Sie diskutieren oder recht haben?“

Mangelnde Impulskontrolle findet
viele Wege...
Ich hab eine Weile überlegt, wovon ich
mich da genau abgrenzen möchte und wie
ich das begrifflich fassen kann, ohne
dabei Zuschreibungen zu verwenden, die
einer verächtlichen Markierung
gleichkämen. Was ich meine? Begriffe wie
„Pöbel“, „Proleten“, „Trottel“, „Ruß“
etc. kommen nicht in Frage.
Wie
also begrifflich damit umgehen, daß
heute vor allem via Social Media
gepöbelt wird, was das Zeug hält? Ich
nehme ein moderates Beispiel privater
Erhabenheits-Pose, Zitat:
„Flaschen
an der Spitze. Das ist die Chance der
zweiten Reihe. Hoffentlich sind die
wenigstens gut.“
Von da aus
geht es auf der nach unten völlig
offenen Skala vorgetragener Verachtung
munter dahin. Höchstwerte an mangelnde
Impulskontrolle und verbaler
Gewalttätigkeit finde ich dann
massenwirksam in diversen Formaten des
euphemistisch so benannten „Reality TV“.

Genies vom Boulevard
erklären uns die Welt.
Da werden recht hemmungslose
Role Models in Sachen Gewalt
durch Sprache auch noch
quotenwirksam inszeniert.
Ich brauche eine semantische
Lösung, die hinreichend
akzeptabel ist, indem sie
nicht selbst zur
sprachlichen Verächtlichkeit
wird.
Meine Lösung
liegt in der Markierung des
jeweiligen Terrains, wobei
einzelne Personen sich durch
große Mobilität auszeichnen.
Ich sehe da zwei Felder: die
Nische und den Boulevard.
Hier werden selbstgewählte
Regeln beachtet und es wird
unterschieden: was sind
Argumente zur Sache und was
Argumente zur Person?
Dort wird alles
behauptet und auf nichts ist
Verlaß. Gefühltes hat
Vorrang, Verkünden statt
Begründen ist das Gebot
vieler Stunden. Da wir dem
Staat das Gewaltmonopol
übertragen habe, ist das
Faustrecht merklich
eingedämmt. Aber auf dem
Boulevard wird es noch
praktiziert und gefeiert…
bis der Arzt kommt. [
Fortsetzung]
+)
Netzkultur