7. Dezember 2017

Ich hab gestern von der Hierarchie geschrieben, die Markus Lüpertz in der Kunst und in der Betrachtung von Werken bevorzugt. Er betont sie nicht um der Hierarchie willen, sondern in einem Zusammenhang, der seine Frage nach der Ewigkeit illustriert; wie ich das im Eintrag vom 4. Dezember notiert habe:

Nach seiner Auffassung beschäftigt sich Kunst hauptsächlich mit sich selbst, sie sei "immer Renaissance", stelle sich den Jahrhunderten, ringe dabei mit sich und den Fragen nach Qualität, nach Vollendung. [Quelle]

Das ist, wie schon angedeutet, nicht mein primäres Bezugssystem für die Kunstpraxis, das zielt für meine Möglichkeiten viel zu hoch. Aber ich mag dieses Konzept vor allem wegen seiner Geschichtsträchtigkeit, daß sich so ein größeres Zeitfenster ausleuchten läßt, welches einem sonst so leicht über die persönlichen Wahrnehmungsgrenzen hinausrutscht.

log2441a.jpg (11360 Byte)

In der mehrjährigen Auseinandersetzung über Kunst mit der aus Serbien stammenden Kunsthistorikerin Mirjana Peitler-Selakov ist mir ein Aspekt besonders in Erinnerung. Sie wurde in einem Land geboren, das es nicht mehr gibt. Sie entstammt einer Region Europas, die nach ihrer Überzeugung "zu viel Geschichte hat". Europa hat dort immer wieder Konfliktlagen durchgespielt, die dort nicht autochthon waren, ohne jede Rücksicht auf die ansässige Völker.

Peitler-Selakov betont daher die Überzeugung: "Wir müssen unsere Geschichte selbst schreiben." Das meint, es nicht anderen zu überlassen, sie zu definieren, aber auch keine Selbstdefinition durch Feindmarkierung. Das meint eine wachsende Erzählung über sich selbst aus der Auseinandersetzung mit sich selbst.

Damit möchte ich deutlich machen, daß die "ständige Renaissance", gestützt auf das Abarbeiten an der eigenen Geschichtet, das Überprüfen der Qualität und des Grades der Vollendung, wie es Lüpertz betont, auch auf andere Bereiche als die der Kunst gut anwendbar ist, ganz besonders auf die Nationen, die wir kennen. (Stichwort: 1918-2018!)

Die Facebook-Software hat mir heute eine "Erinnerung" rausgehauen, ein Blatt aus der Leiste "An diesem Tag", da der italienische Künstler Vito Pace am 7. Dezember 2013 einen meiner Logbuch-Einträge herausgestellt hat. Darin steht unter anderem:

In einer aktuellen Grazer Streitschrift zur Kulturpolitik fand ich die Überschrift "Kunst kann die Welt verbessern." Ich widerspreche. Das kann sie nicht und soll sie nicht, sie ist kein soziokultureller Werkzeugkasten zum Reparieren gesellschaftlicher Problemlagen, sie ist keine Werkstatt für die Welt. [Quelle]

Das unterschreibe ich nach wie vor. Es korrespondiert mit der Geringschätzung einer "pädagogischen Kunst", die Lüpertz zeigt. Ich meine, pädagogischen Kunst kommt dem Dekorationsgeschäft ziemlich nahe, ist eine Art mentaler Schaufenster-Dekoration.

log2441b.jpg (26268 Byte)

Nun fallen mir zwar gerade Bert Brecht und Augusto Boal ein, was mich in dieser Ansicht etwas wackelig macht, aber ohne Momente des Zweifels würde ich meine Überzeugungen für nutzlos halten. Ich verbringe oft Teile der Nacht schlaflos. Dabei widme ich solche Zeit der Lektüre. Wenn meine Augen und mein Verstand zum Lesen zu müde sind, wechsle ich zu Filmen, um dann wieder im Schlaf anzukommen, wahlweise im folgenden Arbeitstag.

Für mich ist Arbeitstag ein schönes Wort, denn ich arbeite gerne an den Dingen, die mich fesseln. Vorige Nacht hat mich ein Text im Guardian sehr beschäftigt, der gerade hier zum Thema paßt. James Suzman schrieb über "How Neolithic farming sowed the seeds of modern inequality 10,000 years ago" [Quelle]

Ich hab dieses Teilthema derzeit dauernd auf dem Tisch, die Neolithische Revolution, also jene Ära, da Menschen begannen seßhaft zu werden. Suzman schreibt gegen die Annahme, daß Hierarchie unvermeidlich sei. Er faßt Forschungsergebnisse zusammen, wonach Jäger und Sammler radikal egalitär gewesen seien. Sie hätten es, in Anerkennung unterschiedlicher Fertigkeiten und Kompetenzen von Menschen, geradezu aggressiv abgelehnt, daraus eine Hierarchie abzuleiten, derlei zu institutionalisieren.

Mit den Mühen des Ackerbaus ändert sich das alles grundlegend. Suzman: "Hunter-gatherers, by contrast, only worked to meet their immediate needs; they neither held themselves hostage to future aspirations, nor claimed privilege on the basis of past achievements."

log2441c.jpg (10388 Byte)

Darin kommt eine äußerst interessante Formulierung vor: "Privilegien auf der Grundlage vergangener Errungenschaften". Lüpertz sagt: "Aus dem Wissen über Kunst und was es gibt an großartigen Kunstwerken, gibt es eine gewisse Hierarchie."

Ich kann dem zustimmen, aber ich bewerte dann auch gerne, wie und wofür die Annahme einer Hierarchie eingesetzt wird. So oder so sind die Positionen innerhalb solcher Hierarchien nicht naturgegeben, sondern das Produkt unserer laufenden Verhandlungen. Gleichzeitig haben wir immer die Freiheit, all das zu ignorieren und eigene Positionen gegen einschlägige Vermessungen zu behaupten.

-- [Hauslos] [Das 2018er Kunstsymposion] --

[kontakt] [reset] [krusche]